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Hochverarbeitet und hochumstritten: Wie sinnvoll ist die Warnung vor Ultra-processed foods?
©Ozgur Coskun/iStock
Sogenannte hochverarbeitete Lebensmittel – Ultra-processed foods (UPF) – sind in aller Munde, sowohl wortwörtlich als auch im übertragenen Sinne. Dick und krank sollen sie uns machen, warnen alarmistische Schlagzeilen. Und klar: Das klingt plausibel, das hat man schon oft gehört. Hochverarbeitet? Dahinter kann sich nichts Gutes verbergen. Schaut man jedoch genauer hin, zeigt sich schnell: Es ist deutlich komplizierter. Denn auch ein ganz normales Vollkornbrot fällt nach einer gängigen Klassifizierung in diese Kategorie. Wie kann das sein?
Das Thema erhitzt seit einigen Jahren die Gemüter – besonders in Fachkreisen. Denn während Verbraucherinnen und Verbrauchern in erster Linie aufgetischt wird, wie gefährlich hochverarbeitete Lebensmittel sind, diskutiert die Wissenschaft noch über passende Definitionen, schwache Evidenzen, den Unterschied zwischen Korrelation und Kausalität – und sieht weiteren Forschungsbedarf. Manche fordern gar, den Begriff ganz abzuschaffen. Dabei steht vor allem ein Klassifizierungssystem in der Kritik, das in vielen Studien zugrunde gelegt wird: das NOVA-System.
Vier Stufen, viele Fragen: die NOVA-Klassifizierung
Wer über „hochverarbeitete Lebensmittel“ spricht, landet fast automatisch beim sogenannten NOVA-System. Entwickelt wurde es von brasilianischen Forschern, um Lebensmittel nach ihrem Verarbeitungsgrad in vier Gruppen einzuteilen:
- Unverarbeitete oder minimal verarbeitete Lebensmittel – dazu zählen etwa frisches Obst und Gemüse, Milch und Fleisch.
- Verarbeitete Zutaten – also Dinge wie Öl, Butter, Zucker oder Salz, die in der Küche verwendet werden, um Lebensmittel zuzubereiten.
- Verarbeitete Lebensmittel – klassische Beispiele sind konservierte, eingelegte oder fermentierte Lebensmittel, wie Gemüse und Hülsenfrüchte in Dosen oder Gläsern.
- Hochverarbeitete Lebensmittel (Ultra-Processed Foods, UPF) – Produkte mit einer langen Zutatenliste, darunter auch Zusatzstoffe wie Emulgatoren oder Aromen. Hierzu zählen etwa Softdrinks, Fertigpizza oder Chips.
Soweit, so gut. Oder auch nicht – denn bei genauerer Betrachtung weist dieses System erhebliche Mängel auf, die gerade in der Wissenschaft für Kritik sorgen. Besonders problematisch: Viele Studien, die die Auswirkungen von hochverarbeiteten Lebensmitteln auf die Gesundheit untersuchen, nutzen die NOVA-Klassifizierung, um festzulegen, was als hochverarbeitet einzustufen ist und was nicht. Hält aber die Klassifizierung selbst nicht wissenschaftlichen Ansprüchen stand, macht dies ganze Studienergebnisse fragwürdig.
Systemfehler – wenn Vollkornbrot krankmachen soll
Was aber ist nun genau das Problem mit der NOVA-Klassifizierung? Zunächst einmal kritisieren Wissenschaftler, dass es keine Grenzwerte dafür gibt, welches Lebensmittel in welche Kategorie fällt. Die Übergänge sind also unscharf und es gibt auch keine wissenschaftliche Basis für die Einteilung, sie kann somit als willkürlich angesehen werden. Einige Forschende werfen den Erfindern daher ideologische Motive vor.
Die NOVA-Klassifizierung sorgt zudem für so manche Kuriosität – so landet etwa ein beim Bäcker gekauftes, unverpacktes Brot in der Stufe 3, dasselbe Brot gilt jedoch als hochverarbeitet, wenn es verpackt im Supermarkt gekauft wird – bei gleicher Zutatenliste. Auch Knäckebrot bekommt den Stempel des hochverarbeiteten Lebensmittels. Richtig absurd wird es, wenn man ein beim Bäcker gekauftes Weißbrot einem im Supermarkt gekauften Vollkornbrot gegenüberstellt. Letzteres wäre dem NOVA-System zufolge die vermeintlich ungesündere Variante. Spätestens hier dürfte nicht nur Ernährungswissenschaftlern auffallen, dass da etwas nicht stimmen kann.
Ein weiteres Beispiel: pflanzliche Milch- und Fleischersatzprodukte. Auch diese gehören nach der NOVA-Klassifizierung zu den hochverarbeiteten Lebensmitteln. Nun ist auch das wieder ein Thema, über das man trefflich streiten kann, und die Debatte hierüber mitunter sehr emotional. Fest steht aber, dass es Fleischersatzprodukte gibt – etwa geräucherter Tofu – die ein deutlich günstigeres Nährwertprofil aufweisen als Wurstwaren. Alles in eine Schublade zu stecken und nicht weiter zu differenzieren, ist aus ernährungsphysiologischer Sicht schwierig.
Auch Säuglingsnahrung wird als hochverarbeitetes Lebensmittel eingestuft, was ein weiterer großer Kritikpunkt ist. Denn viele Mütter bzw. ihre Kinder sind darauf angewiesen.
Kurzum: Der Kern des Problems besteht darin, dass die NOVA-Klassifizierung Lebensmittel ausschließlich nach ihrem Verarbeitungsgrad einteilt und die Nährstoffqualität dabei unberücksichtigt bleibt.
Die Sache mit der Korrelation und der Kausalität
Indessen gibt es Studien, die nahelegen, dass ein hoher Konsum hochverarbeiteter Lebensmittel mit verschiedenen Krankheiten in Verbindung steht, etwa, Adipositas, Diabetes oder Bluthochdruck. Aber liegt das wirklich am Verarbeitungsgrad? Oder eben doch an der Nährstoffqualität? Denn die üblichen Verdächtigen für solche ernährungsbedingten Erkrankungen – also Chips, Schokolade, Cola usw. – fallen natürlich in die Gruppe der hochverarbeiteten Lebensmittel. Und dass diese bei einem hohen Konsum ungesund sind, das ist nun wahrlich nichts Neues.
Wie immer gilt: Korrelation ist nicht Kausalität. Um das zu verdeutlichen, gibt es ein beliebtes, plakatives Beispiel: In einigen Regionen mit hoher Geburtenrate, gibt es auch viele Störche. Geburtenrate und Storch-Aufkommen korrelieren also. Das heißt aber noch lange nicht, dass der Storch die Babys bringt – der Zusammenhang ist nicht kausal, also nicht ursächlich. Die naheliegendere Erklärung ist, dass in ländlichen Gebieten mehr Kinder gezeugt werden – und hier gibt es eben auch mehr Störche.
Ebenso lässt sich argumentieren, dass bei einem hohen Konsum von Chips, Cola & Konsorten die schlechte Nährstoffqualität ursächlich für das Entstehen gewisser Krankheiten ist, und nicht der Verarbeitungsgrad.
Tatsächlich hat eine Metastudie hier einmal genauer hingeschaut und hochverarbeitete Lebensmittel in weitere kleine Unterkategorien eingeteilt. Danach konnte nur bei Süßgetränken und Wurstwaren ein Zusammenhang mit gesundheitlichen Risiken hergestellt werden. Alle anderen hochverarbeiteten Lebensmittel waren rehabilitiert. In einer weiteren Metaanalyse zeigte sich sogar, dass Frühstückscerealien oder pflanzliche Ersatzprodukte, die ebenfalls zur Gruppe hochverarbeiteter Lebensmittel gehören, einen positiven Effekt auf die Gesamtsterblichkeit haben können.
Fazit: Differenzierung statt Pauschalisierung
Alles in einen Topf zu werfen, mag beim Kochen eines Eintopfs eine gute Strategie sein, bei der Einteilung von Lebensmitteln nach ihrem Gesundheitswert ist man damit aber schlecht beraten. Auch, wenn es mühsam ist: Das Leben ist komplex und so auch unsere Ernährung. Lebensmittel müssen kleinteilig eingestuft und bewertet werden, Konsummengen, individuelle Verträglichkeiten, Lebensumstände und auch Vorlieben berücksichtigt werden.
Feststeht: Brot ist eines unserer wichtigen Grundnahrungsmittel. Gerade in Deutschland genießt es mit seinen vielen Sorten einen besonderen Stellenwert. Egal, ob vom Bäcker oder aus dem Supermarkt – wer Brot mag und verträgt, sollte es mit gutem Gewissen genießen.
Quellen:
Daniel, H., Henle, T.: Ein Plädoyer gegen die Verwendung der Begrifflichkeit „hochverarbeitete Lebensmittel“ und der NOVA-Klassifizierung in den Lebensmittel- und Ernährungswissenschaften (https://datashare.tu-dresden.de/s/dowSAeSZStoANY6?dir=/&editing=false&openfile=true)
Cordova, Reynalda et al.: Consumption of ultra-processed foods and risk of multimorbidity of cancer and cardiometabolic diseases: a multinational cohort study. The Lancet Regional Health – Europe, Volume 35, 100771 (https://www.thelancet.com/journals/lanepe/article/PIIS2666-7762(23)00190-4/fulltext)
Taneri et al.: Association Between Ultra-Processed Food Intake and All-Cause Mortality: A Systematic Review and Meta-Analysis. Am J Epidem 191(7):1323–1335 (https://academic.oup.com/aje/article/191/7/1323/6539986)
Fragen und Antworten zu (hoch)verarbeiteten Lebensmitteln (https://www.lebensmittelverband.de/de/lebensmittel/verarbeitung/fragen-und-antworten-zu-hochverarbeiteten-lebensmitteln)
Warum hochverarbeitet nicht gleich ungesund ist (https://www.tagesschau.de/faktenfinder/kontext/hochverarbeitete-lebensmittel-upf-100.html)
Hochverarbeitete Lebensmittel (UPF) – schaden sie unserer Gesundheit oder nicht? (https://www.ernaehrungsradar.de/hochverarbeitete-lebensmittel-upf-schaden-sie-unserer-gesundheit-oder-nicht/)
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